Chemie – von Erkenntnis über Gesellschaft zur Politik

Chemie ist überall – in unserem Alltag, in der Wissenschaft und vielleicht sogar in der Politik? Chemie zeigt, wie Wissen wächst: durch Versuch, Irrtum und ständige Verbesserung. Doch während in der Wissenschaft genaues Hinschauen zählt, setzen viele in der Politik auf einfache Antworten. Warum wir davon lernen sollten…

Schon seit Längerem habe ich keinen Blogbeitrag veröffentlicht. Doch seit einiger Zeit reflektiere ich über die tiefere Bedeutung der Chemie für die gesellschaftliche Entwicklung. Die anstehenden Wahlen verleihen diesem Gedankengang eine besondere Dringlichkeit.

Denke ich an Chemie, so denke ich zwangsläufig an Erkenntnistheorie. In meinen Chemie-Edutainment-Kursen für Kinder und Jugendliche begegnet mir oft das Phänomen der „Lügen für Kinder“. Nennt man das so? Die Kinder erzählen mir mit Stolz, dass sie verstanden haben, was ein Atom ist: ein unteilbares, kugelförmiges Grundbausteinchen der Natur. Laut Stand der Forschung ist das so nicht korrekt. Aber ich lasse diese Vorstellung unberührt, denn sie markiert einen Fortschritt – weg von ursprünglichen Konzepten wie den vier klassischen Elementen Wasser, Feuer, Erde und Luft. Haben die Kinder sich von der Serie Avatar inspirieren lassen? Avatar – Der Herr der Elemente ist eine US-amerikanische Zeichentrickserie im Anime-Stil. Die Handlung ist geprägt von dem Ringen der Menschen miteinander durch das Bändigen der vier Elemente Wasser, Feuer, Erde und Luft. Es ist Fantasy. Storytelling.

Die vier Element aus der Serie Avatar

Eine Vier-Elemente-Lehre als Erkenntnistheorie ist jedoch keine reine Phantasie, sondern ein früher Versuch, die Natur zu ordnen – ein Meilenstein in der Geschichte des menschlichen Erkenntnisstrebens. Später folgten die Atomtheorie, das Bohrsche Atommodell, Wahrscheinlichkeitsverteilungen von Elektronen, die gesamte Quantenmechanik. Und vielleicht kommt noch etwas anderes? Jede neue Theorie brachte eine Verfeinerung des Weltbildes mit sich, eine präzisere Annäherung an die Wirklichkeit. Hier sehe ich eine Parallele zur individuellen Entwicklung: Ein Kind begreift die Welt in einfachen Mustern, die mit zunehmendem Wissen immer differenzierter werden. Die Chemie spiegelt damit die Evolution menschlicher Erkenntnis.

Doch die Chemie ist nicht nur eine Wissenschaft der Substanzen und ihrer Umwandlungen, sondern auch ein Bestandteil der Gesellschaft: Zum einen prägt sie unseren Alltag in einer Weise, die wir oft nicht mehr bewusst wahrnehmen (wer diesen Beitrag am Smartphone oder PC liest, mag kurz innehalten und sich fragen, ob moderne Geräte ohne Chemie denkbar wären). Zum zweiten zeigt sie auch, wie Wissen entsteht – durch Irrtümer, Revisionen und stetige Verfeinerung. Gerade diese Dynamik verleiht der Chemie neben vielen anderen empirischen Wissenschaften eine politische Dimension:

Wissenschaftliches Denken in der Politik ist essenziell. Denn eine Gesellschaft ist ein komplexes Gefüge, das sich nicht durch simplistische Antworten erfassen lässt. Ein Themenbereich, der mir sofort in den Kopf kommt: Dekarbonisierung der Energie-Versorgung und Produktherstellung. Hier existiert viel Kontroverse in der Gesellschaft über die richtige Entscheidung. Entscheidungen sollten jedoch nicht denjenigen überlassen werden, die am lautesten schreien oder die vermeintlich einfachste Lösung präsentieren. In Wissenschaft und Gesellschaft zeigt sich: Einfachheit ist oft eine Illusion. Erst durch mühsame Differenzierung nähern wir uns der Wahrheit an. Vielleicht nie vollständig, aber doch stets ein wenig mehr.

Diese Haltung sollte meiner Meinung nach auch das politische Handeln bestimmen: ein ständiges Hinterfragen, Verfeinern und Verbessern. Eine Gesellschaft, die sich auf dieser Basis entwickelt, wird resilienter gegen falsche Heilsversprechen und populistische Vereinfachungen. Die Suche nach Erkenntnis ist mühsam, aber sie ist der einzige Weg nach vorn.

Daran denke ich, wenn ich mit Kinder chemische Experimente durchführe und es mir wie soziale Bildungsarbeit vorkommt. Und wenn ich am 23. Februar meine Wahl treffen werde.

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